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Transottoman Topics and Stories

In this blog, we plan to regularly publish texts presenting research projects and activities conducted within the priority programme to a larger public. Instead of addressing purely theoretical discussions or surveys of literature, the single blog posts will focus on a specific issue of exemplary nature pertaining to our individual research projects. We hope that this will give an overview of the wide range of topics within the research network and define the scope of the Transottoman approach more clearly.
 
Kondakov
Russische Wissenschaftler auf dem Balkan: Archäologie und Kulturdiplomatie im 19.Jahrundert

von Vitalij Fastovskij

Kirche Gracanica
Abb. 1: „Kirche in Gračanica“ (Kondakov 1909: 203). 2006 wurde der Sakralbau zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Aufgrund der instabilen Lage in der Region steht er heute auf der Roten Liste des gefährdeten Welterbes.
Im Zeitalter des Imperialismus verließen sich die europäischen Großmächte nicht nur auf militärische Stärke. Die Beherrschung des „Orients“ verlangte auch nach wissenschaftlicher Expertise. Bis heute sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der engen Verflechtung von imperialer Politik und Wissenschaft zu spüren. Auch in der Archäologiegeschichte wird die enge Verknüpfung wissenschaftlicher Feldforschung und geopolitischer Zielsetzungen thematisiert. Die von wissenschaftlichem und nationalem Konkurrenzdenken geprägte Aneignung des kulturellen Erbes vergangener Zivilisationen durch die europäischen Mächte kann mit Margarita Díaz-Andreu García als eine Form von „informellem Imperialismus“ verstanden werden (Díaz-Andreu García 1996 und 2007). Das Bewahren von Überresten vergangener Zeiten wurde zu einem Zeichen von Zivilisiertheit und kultureller Überlegenheit erhoben, während der Umgang der kolonisierten Völker mit den Altertümern nur zu oft als unzivilisiert oder barbarisch galt. Folgerichtig war auch eines der wichtigsten Rechtfertigungsargumente der europäischen Eroberer ein zivilisatorisches Versprechen. So etwa im russischen Turkestan, wo Archäologen sich darum bemühten, Kulturgüter vor den „ignoranten“ „Einheimischen“ zu „retten“ und Versuche unternommen wurden, die lokale Bevölkerung mittels Reisen in die Metropole zu „zivilisieren“ und ins Russländische Reich zu integrieren (Gorshenina 2019). Doch wie sah die archäologische Forschung auf dem Balkan aus, wo das Zarenreich panslawische und panorthodoxe Interessen verfolgte? Balkanexpeditionen erfüllten, kurz gesagt, eine kulturdiplomatische Funktion. Bei der Erforschung des „orthodoxen Osten“ ging es weniger darum, Museen mit möglichst prestigeträchtigen archäologischen Objekten zu füllen und auf diese Weise den Ruhm des Imperiums zu mehren, seine Fortschrittlichkeit zu unterstreichen und asymmetrische Machtverhältnisse symbolisch zur Schau zu stellen. Ausschlaggebend war vielmehr der Wunsch, die „orthodoxen Völker des Ostens“ enger an Russland zu binden. Wissenschaftliche Experten leisteten einen Beitrag zur Vertiefung der Beziehungen zu Russland und agierten als (keinesfalls uneigennützige) „Kulturdiplomaten“ avant la lettre. Der Nationalismus aber setzte ihren Bemühungen enge Grenzen.

 

Der archäologische Faktor in den russisch-bulgarischen Beziehungen 

Krieg und Wissenschaft waren auch im russischen Fall eng miteinander verschränkt. Die Eroberung der Schwarzmeerregion im 18. Jahrhundert (Jobst 2007) und die Kriege im Kaukasus (Jerslid 2002) und in Asien im 18. und 19. Jahrhundert (Gorshenina 2019; Bukharin 2019) brachten diese Regionen in den Fokus der Wissenschaften. Es entstanden Gelehrtengesellschaften zur Förderung verschiedener Disziplinen und der Staat investierte in neue Lehrstühle sowie in wissenschaftliche Projekte. Auf dem Balkan lässt sich ebenfalls ein Nexus von Kriegsführung und archäologischer Forschung beobachten. Während des russisch-osmanischen Krieges von 1828–29 sandte die Regierung Nikolaus I. (reg. 1825–55) drei Expeditionen in die von russischen Truppen besetzten respektive befreiten Gebiete aus. Es wurden Reiseberichte und Zeichnungen angefertigt sowie diverse antike Objekte nach St. Petersburg gebracht (Văžarova 1960: 37–95). Während des russisch-osmanischen Kriegs von 1877–78 befassten sich russische Besatzungsbehörden erneut mit archäologischen Fragen (Văžarova 1960: 112–14). Nach dem Berliner Kongress von 1878, der im Russländischen Reich als nationale Schmach empfunden wurde, gewann die Idee eines neuen Zugangs zur Außenpolitik an Popularität unter ranghohen Beamten. Neben militärischer Stärke sollten nun auch humanitäre, wirtschaftliche und kulturelle Projekte den russischen Einfluss sichern (Üre 2020: 55). Dies zeigte sich am deutlichsten 1882 mit der Gründung der Kaiserlichen Orthodoxen Palästina-Gesellschaft, die sich nicht nur um Pilger, sondern auch um wissenschaftliche Expeditionen und den Ausbau eines Schulwesens in Palästina kümmerte. Für die russisch-bulgarischen Beziehungen bedeutete dies, dass die archäologische Forschung auf stärkere Unterstützung seitens der Politik hoffen durfte, was auch tatsächlich geschah. Die Kontrolle über historische Stätten und Antiquitäten sowie ihre Ausdeutung wurden andererseits auch als eine Frage der Souveränität verstanden. Dadurch erklärt sich die immer wieder geäußerte Sorge vor einer Ausfuhr von Kulturgütern ins Zarenreich. Dies jedoch war nicht das Kalkül russischer Politik auf dem Balkan. Im Gegenteil: Generalkonsul Ceretelev befand (12. Dezember 1880), dass die „Übergabe der gesammelten Kollektionen in den Besitz der lokalen Museen überaus wohlwollend aufgenommen” werden würde. Und sein Nachfolger Fürst Putjati warnte (15. Juni 1883), dass die Ausfuhr von archäologischen Objekten einen Nachteil für Bulgarien bedeuten würde, der sich insbesondere in längerfristiger Perspektive zeigen würde (Văžarova 1960: 129, 134). Zu einer Intensivierung der wissenschaftlichen Kontakte kam es jedoch nicht mehr, da sich die russisch-bulgarischen Beziehungen ab 1886 infolge einer schweren Krise und der Niederlage prorussischer Kräfte im Fürstentum massiv verschlechterten.

Erst um die Jahrhundertwende kam es zu einer Häufung von Expeditionen ins Fürstentum und in die Vilâyets Saloniki, Monastir und Kosovo. Russische Archäologen träumten wieder von der systematischen Erforschung „slawischer Denkmäler“ auf dem Balkan (Pogodin 1897: 13–22). Eine Schlüsselrolle kam dabei dem 1895 eröffneten Russischen Archäologischen Institut in Konstantinopel (RAIK) zu. Nach dem Willen der Obrigkeit sollte die Institution helfen, den russischen Einfluss auf die „orthodoxen Völker des Ostens“ auszuweiten (Basargina 1999; Üre 2020). Im Jahr 1896 startete ihr Direktor, Fedor Uspenskij, eine kulturdiplomatische Offensive. Er schrieb Briefe an die Prinzessin Marie Louise, den Bildungsminister Ivan Vazov, an den Fürsten Ferdinand I. und an den Exarchen Josef I. Im Kern ging es um die Schaffung archäologischer Institutionen in Bulgarien unter russischer Federführung. Aus politischem Kalkül bekundete Ferdinand I. sein reges Interesse für bulgarische Altertümer. Er gewährte Fedor Uspenskij das exklusive Recht, in archäologischen Belangen Briefe an die fürstliche Adresse zu senden. Der Fürst empfing ihn bei mindestens einer Gelegenheit persönlich, wobei Uspenskij auch Mitglieder der Regierung traf. Uspenskijs Bemühungen ist es maßgeblich zu verdanken, dass die Bulgarische Archäologische Gesellschaft 1901 ins Leben gerufen wurde (Gorjanov 1947; Văžarova 1960: 194-200).

Angesichts der politischen Dimension der archäologischen Forschung auf dem Balkan kann kaum – wie noch in sowjetischer Zeit – von einer „uneigennützigen Unterstützung“ der bulgarischen Wissenschaft (Mavrodinov 1955: 132) gesprochen werden. 

 

Fallbeispiel: Die Kondakov-Expedition nach Makedonien (1900)

grundrissgracanica
Abb. 2: Die Abbildung zeigt den Grundriss des Klosters Gračanica, angefertigt von Petr Pokryškin (Kondakov 1909: 204).

Mit dem Frieden von San Stefano (1878), der den russisch-osmanischen Krieg von 1877–78 beendete, schuf das Russländische Reich ein Bulgarien, dem ein Großteil des damals als Makedonien bezeichneten Gebietes zufiel. Infolge der Revision der Vertragsbeschlüsse auf dem Berliner Kongress verblieb Makedonien unter osmanischer Kontrolle und weckte territoriale Begehrlichkeiten Serbiens, Bulgariens und Griechenlands. Die Makedonische Frage (hierzu der Klassiker: Adanır 1979) war ein hochkomplexes, mehrschichtiges Problem mit einer Vielzahl involvierter Akteure. Aus Sicht St. Petersburgs stellte vor allem der bulgarisch-serbische Antagonismus ein potenzielles Sicherheitsproblem im Falle eines Krieges mit dem Osmanischen Reich oder dem Dreibund dar, einem 1882 zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Königreich Italien geschlossenen Defensivbündnis. Um die Jahrhundertwende dachte die politische Spitze Russlands deshalb unter anderem auch über eine pro-bulgarische Lösung des Problems, bei gleichzeitiger Entschädigung Serbiens auf Kosten Österreich-Ungarns, nach. Politische Forderungen aber mussten mit wissenschaftlichen Argumenten untermauert werden. Zu diesem Zweck beauftrage der Großfürst Konstantin Konstantinovič den international angesehenen Kunsthistoriker, Byzantinisten und Archäologen Nikodim Kondakov mit der Organisation einer Expedition nach Makedonien. Archäologische und ethnografische Erkenntnisse sollten nach dem Willen der Regierung eine zuverlässige Basis für zukünftige Grenzziehungen liefern. Unter den acht Expeditionsteilnehmern befanden sich neben Kondakov der bekannte Historiker und spätere Führer der Kadetten Pavel Miljukov, der Slawist Petr Lavrov, der Architekt Petr Pokryškin und der Maler und Fotograf Daniil Krajnev. Dass Kondakov mit Miljukov einen Mann einladen konnte, der als politisch unzuverlässig galt, hing nicht nur mit seiner Qualifikation zusammen (für Miljukov war dies bereits seine dritte Makedonien-Reise), sondern auch maßgeblich mit seiner pro-bulgarischen Einstellung (Smirnov 2011; Butyrskij; Kaširin 2017). 

Mitglieder der Kondakov-Gruppe bereisten Ortschaften, die auf dem Gebiet des heutigen Griechenlands, Bulgariens, Nordmazedoniens, Albaniens und Kosovos liegen. Nach Abschluss der Expedition wurde ein Reisebericht an die Regierung übergeben. Wie Aleksandr Smirnov rekonstruieren konnte, fand dieser 1902 im Zuge der Vorbereitung der Balkanreise des Kriegsministers Aleksej Kuropatkin Verwendung. Im Fazit eines der Dokumente, die Kuropatkin zur Verfügung gestellt wurden, hieß es: 

Historische Rechte werden nicht durch verlorene Eroberungen bestimmt, sondern durch die Sicht auf die eigene Nationalität und Kultur. In diesem Sinne werden die Rechte Bulgariens im Süden durch die Linie zwischen Adrianopolis [Edirne] über Seros [Serres] und weiter über Solun’ [Thessaloniki], Veria, Monastir [Bitola] bis Ochrid und Strugi begrenzt.

Dies entsprach in etwa den Bestimmungen des Friedens von San Stefano. Für Albaner sah das Dokument die Deportation auf ihr „angestammtes“ Territorium vor (Smirnov 2011). Dies zeugt nicht nur von einer Instrumentalisierung der Expeditionsergebnisse, sondern auch von einer zumindest partiellen Interessenkongruenz von Wissenschaft und Politik. Aus ganz eigenen politischen Überzeugungen heraus betrieben die ehemaligen Expeditionsteilnehmer Öffentlichkeitsarbeit und warben offen für ihre Sichtweise auf die Makedonische Frage. Miljukov versuchte mit einer Reihe von Publikationen, die russische Öffentlichkeit über die „wahre“ Situation in Makedonien aufzuklären (Makuškin/ Tribunskij 2000, Bohn 1992 und 2015). Kondakov veröffentlichte 1909 einen analytischen Reisebericht und bekräftigte noch einmal den Anspruch Bulgariens auf den Großteil des makedonischen Gebietes. Zwar stimmte er der These zu, dass Makedonien kein „organisch gewachsenes Land, mit einer auf ihm groß gewordenen Ethnie“ sei. Doch seien die Berichte über die ethnische Vielfalt der Region übertrieben. Insbesondere grenzte er das „fremdstämmige Element“ von der slawischen Bevölkerung ab, die seiner Meinung nach „vollkommen ganz, einheitlich und durchaus eigenständig“ sei (Kondakov 1909: 5, 296). Einem größeren Publikum machte Kondakov seine Ansichten mit Vorträgen und einem großen Interview in der illustrierten Zeitschrift „Ogonek“ zugänglich, wobei sich Kondakov zu besonders drastischen anti-albanischen Aussagen hinreißen ließ (Ogonek 1910; vgl. auch Miljukov 1899: 74).

Aber wie waren die Reaktionen auf dem Balkan? Während bulgarische Kommentatoren verständlicherweise hocherfreut waren, zeigte sich die serbische Seite nicht etwa ausnahmslos brüskiert, wie Kondakov später behauptete. Im Gegenteil: Serbische Zeitungen drehten den Sachverhalt kurzerhand um und behaupteten, dass die russischen Forscher herausgefunden hätten, dass Makedonien in Wahrheit zu Serbien gehöre. Miljukov veranlasste dies sogar zu einer öffentlichen Gegendarstellung (Makuškin/Tribunskij 2000: 111). Wie war dies möglich? Offenbar beruhte die eigenwillige serbische Auslegung auf der Divergenz zwischen den ethnografischen und kunsthistorischen Befunden. Mit letzteren ließ sich nämlich sehr wohl ein serbischer Anspruch konstruieren. Dazu mussten die in der Fachzeitschrift „Byzantinische Chronik“ (1901) und später in Kondakovs Buch publizierten Expeditionsergebnisse unter kunsthistorischen Gesichtspunkten gelesen und für politisch ausschlaggebend erklärt werden. So hieß es in einer Rezension aus dem Jahre 1910, dass Kondakov ein für Serben besonders beachtenswertes Buch geschrieben hätte und als ein Slawe und Künstler selbstredend enttäuscht von der „barbarischen und unslawischen Arbeit“ der Bulgaren gewesen sei (Brankovo kolo 1910). In die gleiche Kerbe – aber ohne falsche Unterstellungen – schlug die Besprechung des Linguisten Aleksandar Belić im Buch Serben und Bulgaren im Balkanbund und im innerbalkanischen Krieg. Der Autor hob diejenigen Stellen hervor, die vom serbischen kulturellen Erbe in der Region sprachen. So zitierte er etwa eine Passage, in der der russische Forscher das Kloster Gračanica beschrieb und seine Begeisterung für die architektonische Leistung der Erbauer zum Ausdruck brachte (Belić 1913: 76-77; Kondakov 1909: 203). Zur gleichen Zeit (1913) fielen serbische Reaktionen auf Miljukov, der als Gutachter in der Carnegie-Kommission wirkte und für Bulgarien Partei ergriff, außerordentlich negativ aus (Bohn 2015: 61-65).

 

Fazit

Kondakov
Abb. 3: Prof. N. P. Kondakov. Die illustrierte Zeitschrift Ogonek (Das Lichtlein) stellte Kondakov als „einflussreichste(n) Kenner der byzantinischen und altslavischen Kunst“ in Europa vor. Ogonek 8 (1910).

Archäologische Forschung besaß auch im ausgehenden Zarenreich eine politische Dimension. Die Kontrolle über Kulturschätze und ihre Interpretation waren nicht zuletzt eine Frage des Prestiges, der Konkurrenzfähigkeit und der staatlichen Souveränität. Mit Hilfe archäologischer, geografischer und ethnografischer Forschung ließen sich außerdem Gebietsansprüche untermauern. Auch auf dem Balkan interessierten sich russische Archäologen für den Erwerb bulgarischer Altertümer. Zu nennen wäre etwa der gescheiterte Versuch des Konsuls in Manastır (Bitola) Aleksander Rostkovskij und des Archäologischen Instituts in Konstantinopel, die bedeutende Grabinschrift des Zaren Samuil aus dem 10. Jahrhundert nach St. Petersburg bringen zu lassen. Doch gerade im Hinblick auf außenpolitische Ziele erkannten die Verantwortlichen, trotz allen internen Differenzen, dass die Praxis der Ausfuhr von Kulturgütern, wie sie etwa in Palästina oder in Zentralasien betrieben wurde, den übergeordneten politischen Zielen nicht förderlich sein konnte. Archäologische Forschung sollte einen Beitrag zur Vertiefung russisch-bulgarischer Beziehungen leisten, wobei wissenschaftliche Experten auch als „Kulturbotschafter“ avant la lettre agierten, ob nun in Absprache mit der imperialen Diplomatie oder eigenen Interessen und politischen Überzeugungen folgend. Die kulturdiplomatische Tätigkeit Fedor Uspenskijs und die Vermarktung der Ergebnisse der Kondakov-Expedition zeigen die Bedeutung, die wissenschaftliche Experten auch im ausgehenden Zarenreich erlangten. Kondakov und Miljukov suchten die Öffentlichkeit und bemühten sich aktiv um eine Stärkung pro-bulgarischer Einstellungen in Russland. Sie hofften darüber hinaus auf eine Lösung der Makedonischen Frage zugunsten Bulgariens. Über Miljukov urteilt Thomas Bohn: „Indem er an die soziale Wirklichkeit Makedoniens mit den Kategorien des nationalen Gedankens seiner Zeit herantrat, trug er zur Verschärfung des Konfliktes bei“ (Bohn 1992: 325). Zugleich muss betont werden, dass die Gruppen, auf deren Beeinflussung oder Instrumentalisierung die „Kulturdiplomatie“ des Zarenreichs und seiner profilierten Experten abzielte, nicht passiv blieben, sondern – den asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen der Großmacht Russland und den Balkanstaaten zum Trotz – eigene Interpretationsmuster entwickelten. Sowohl in Bulgarien als auch in Serbien wurden die Ergebnisse der Kondakov-Expedition zugunsten eigener nationaler Bestrebungen ausgelegt. Dies verdeutlicht noch einmal, wie groß das Spannungsverhältnis von imperialen pan-slawischen, pan-orthodoxen Ansätzen und ethnozentrischen Ansprüchen war (Vovchenko 2016). Eine von konservativen Eliten angestrebte, aber nie zu einer kohärenten Strategie ausgearbeitete enge Bindung der „orthodoxen Völker des Ostens“ an das Russländische Reich erwies sich als Chimäre. Mit den Balkankriegen prallten lokale konkurrierende „small-power imperialisms“ (Seton Watson) und im Ersten Weltkrieg noch dazu die unterschiedlichen Interessen der Großmächte aufeinander. Vardar-Makedonien blieb, abgesehen von den Besetzungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg (jeweils mit deutscher Hilfe), für Bulgarien verloren.  

Aus transosmanischer Perspektive betrachtet war und bleibt Makedonien folglich eine Projektionsfläche für konkurrierende imperiale bzw. postosmanische Aspirationen. Denn auch für serbische und bulgarische Akteure in Wissenschaft und Staatswesen waren Sakral- und Kulturbauten nicht nur ein essentieller Bestandteil von Abgrenzungsdiskursen zum Osmanischen Reich. Sie legitimierten ganz unmittelbar territoriale Herrschaftsansprüche und die Vorstellung homogener Nationen (Rohdewald 2014) in einer religiös und sprachlich vielfältigen Region, die sich auch heute gegen homogenisierende kulturelle Praktiken sperrt (Rohdewald 2018).

 


 

Archivquellen

Sankt-Peterburgskij filial archiva Rossijskoj Akademii Nauk

(SPF ARAN)

Fond 127: Archeologičeskij institut v Konstantinopole Ministerstva narodnogo prosveščenija

 

Quellen

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Belić, Aleksandar: Srbi i bugari u balkanskom savezu i u mađusobnom ratu. Belgrad 1913. 

Drevneslavjanskoe iskusstvo. In: Ogonek 8 (1910), ohne Seitenangaben.

Kondakov, Nikodim: Makedonija. Archeologičeskoe putešestvie. St. Petersburg 1909.

Mavrodinov, N.: Raskopki i issledovanija v Bolgarii za poslednie gody. In: Sovetskaja archeologija, Bd. 24 (1955), 121–54.

Miljukov, Pavel: Christianskie drevnosti Zapadnoj Makedonii. Po materialam, sobrannym Russkim Archeologičeskim Institutom vtečenii letnej ėkskursii 1898 goda. In: Izvestija Russkogo archeologičeskogo instituta v Konstantinopole, Bd. 4, N. 1 (1899), 21–151.

Pogodin, Petr: Severnaja Bolgarija. In: Chronika [= Anhang zu Izvestija Russkogo archeologičeskogo instituta v Konstantinopole, Bd. 2 (1897)], 13–22.

Văžarova, Živka N. (Hg.): Ruskite učeni i bălgarskite starini. Izseldvane, materiali i dokumenti. Sofia 1960.

 

Literatur

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Basargina, Ekaterina: Russkij archeologičeskij institut v Konstantinopole. Očerki istorii. St. Petersburg 1999.

Bohn, Thomas: Geschichte und Politik. Makedonien im Kalkül des russischen Historikers und Dumaabgeordneten Pavel N. Miljukovs. In: Müller, Diemar /Troebst, Stefan (Hg.): Der „Carnegie Report on the Causes and Conduct oft he Balkan Wars 1912/13Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte im Völkerrecht und der Historiographie. Leipzig 2015, 51–66.

Bohn, Thomas: Wissenschaftliche Expedition und politische Reise – Bulgarien in der Balkankonzeption P. N. Miljukovs. In: Österreichische Osthefte 34, 2 (1992), 312–33.

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